Das Mass der Dinge

Immer mehr von dem, was ich vergessen wollte, breitet sich aus und holt mich ein.
Jahrhunderte haben in uns Sehnsüchte gebildet und zu Wünschen werden lassen: Nach Süden wollte ich. In ein Land, in dem meine Träume Platz hatten. Bilder der Mauern aus Steinen der Felder, Bilder der Bäume, die noch grün sind, wenn alles verdorrt, Bilder der Sonne, die in der Frühe die Schatten ausbreitet, am Tage brennt und am Abend untergeht, als wenn sie die Erde versöhnt.

Ich sitze im Garten, schreibe das. Auf einem alten Tisch steht mein Tee. Die Hunde stupsen mich, sie wollen gestreichelt werden. Ingrid ist einkaufen in die Stadt, zur Post und ich weiss nicht was. Wenn sie wiederkommt, wird sie unser Essen machen. Der Tisch ist eine Palette von einem Gabelstapler. Das Holz ist grau und er wackelt auf seinen vier Beinen. Zu meinen Füßen ist etwas Kies. Das Gras müht sich hindurch. Bald wird der Pfirsichbaum mir Schatten spenden. Die Knospen werden prall. Sechs Kilometer entfernt sieht man die alte Stadt Ibiza. Silbern vom Meer umringt. Die Flugzeuge kann ich als kleine Punkte starten sehen und manchmal, bei Südwind, dröhnen die Motoren bis zu mir herauf.

Fortgehen von hier, zurück, nur um den Verdacht zu entkräften, in den Metropolen, im Gedränge, das besser finden zu können, was zu Bildern wird?

Was ich in Deutschland versäume an Anregungen und Auseinandersetzungen, weiß ich seit ich hier bin. Was habe ich aufgegeben? Realität? Das was ich kenne, habe ich aufgegeben, Virulenz, den Glauben "Hast Du was, bist Du was", oder was da sonst sein mag. Weiß das jemand, der 45 Jahre an diesem Nabel gehangen hat? Weiß das aber auch der, der immer mit der Frage, warum ich nach Ibiza gegangen bin, auch den Verdacht äußert, daß ich damit notwendigen Impulsen - nicht nur für einen bildnerischen Prozeß - aus dem Wege gehe? Eine Flucht in die Idylle? Eine Idylle verlangt: mit sich selber auskommen. Mariano, er hatte die schönsten Mauern der Insel - mit ihm habe ich mein Haus gebaut - hat sich eine Kugel in den Kopf geschossen. Und Bernd, der Freund, hat Gott gesucht und ihn auch hier nicht gefunden. Gott nicht und nicht den Mut weiterzumachen. Nur aus Bequemlichkeit aus einem festverzahnten Verbund auszusteigen, würde sich bald als eine Fehleinschätzung herausstellen, genauso die Behauptung, notwendige Anregungen für Bilder besser in den Zentren zu finden. Diese Beurteilung geht ganz von der gängigen Vorstellung aus, daß es in den Metropolen, sowie es ist, schon seine Richtigkeit haben wird.

In den Metropolen fallen die uns tangierenden Entscheidungen, entstehen die Wertungen. Unsere heutige negative Einstellung gegen sie haben wir, weil von ihnen die Destruktion ausgeht, weil sie die Meldungen hergeben, die in uns Trauer und Zorn auslösen. Metropolen waren immer das geistige Zentrum eines Landes, aber das, was sie heute verbreiten, beschleunigt den geistig-moralischen Niedergang. Wo ist noch eine Perspektive? Neue Zielvorstellungen werden nur zögernd angenommen. Alle die sich aufmachen und formieren, Alternative, Umweltschützer, Friedensbewegungen, richten sich gegen das, was in den Metropolen angezettelt wird. Um erkennen zu können, wovon man sich eines Tages trennen sollte, ist es wichtig, eine Zeitlang in ihnen zu leben. Dort wird Wahnsinn zu Recht gebastelt, der Markt gezimmert. Da ist die Lobby für jede Sache, die Erfolg haben soll. Interessengruppen treffen am Rande der Legalität ihre Abmachungen und winden sich durch ein Labyrinth von Widerständen zum Erfolg, und oft vergißt man schon für kleine Vorteile sein Gewissen. Sicher beeinflussen auch destructive Strömungen einen kreativen Prozeß, aber das Ergebnis bleibt destruktiv, wenn es nicht eine Transformierung erfährt. Das ist um so schwerer, je näher an den Ereignissen man sich darum bemüht. Distanz war schon immer nützlich, um Zusammenhänge erkennen zu können. Abstand zu den Vorgängen um uns, zu dem was wir machen, was mit uns gemacht wird, läßt leichter unterscheiden, was uns krank macht.

Es ist absurd, anzunehmen, durch Distanz zu den Metropolen die Basis für die Kriterien der Kunst zu verlieren - für die des Erfolges vielleicht. Es ist absurd, anzunehmen, abseits nicht ebenso starke Impulse finden zu können, die ungehindert durch massive destruktive und triviale Einflüsse zulassen, Einsichten zu gewinnen und zu formulieren, die uns vielleicht helfen, ein Stück aus der Resignation, dem No-Future herauszukommen.

Was um uns ist, stimuliert uns. Es ist nicht egal, wo wir uns aufhalten - was wir aufnehmen um abzugeben. Das Umfeld, im dem wir leben, ist so wie wir es machen und so, wie es dann ist, wirkt es zurück. Du mußt heraus aus dem, was Du als kaputt empfunden hast oder Du gehst kaputt. Du befreist Dich aus Deiner Welt, solange Du noch Distanz dazu finden kannst. Im Elend aneinanderrücken teilt die Ausweglosigkeit, doch langsam verkommt die Kraft davonzulaufen.

Military?Look, Disko?Sequenzen als optische Darbietungen; Perversitäten, um sich in Langeweile zu besudeln. Davonlaufen soll man vor den Ergebnissen der stimulierenden Anregungen, die in den Zentren die Menschen zu Äußerungen animieren, sonst müssen wir vor uns davonlaufen: Wir selber werden, und wir merken es nicht, Produkte derer, die ihre Absichten als Fortschritt verkaufen und ohne Abstand zu dem was sie tun, glauben wichtig zu sein. Sie begreifen nicht, daß sie den Boden unter ihren Füßen verloren haben. Sie essen von Papptellern Käse in Folie. Sie fahren Auto, sie verlernen das Gehen. Sie pinkeln in gekachelten Räumen in Schüsseln mit eingebauter Fotozelle. Sie leben in künstlich belüfteten Räumen. Sie haben die Fenster verschlossen vor ihrem eigenen Dunst. Sie stehen in Massen und kennen sich nicht. Sie laufen in Massen aneinander vorbei, sie fahren über und unter der Erde. Es ist kein Platz. Sie werden geleitet durch Rot und Grün und Gelb. Sie bleiben stehen, wenn man es so will und sie gehen weiter, wenn man es so will. Sie werden überfahren, wenn der Strom ausfällt. Sie verhungern, wenn der Strom ausfällt. Sie sind nicht fähig zu leben. Das alles ist wichtig, um Bilder zu machen? Sie singen den alten Rock, sie singen ihn, als wäre Bill Healey nie gewesen. Und zucken und zucken zerzaust wie verstaubte Hühner, deren Kopf schon abgeschlagen ist. Sie haben die Kraft verloren, sich selber auszudrücken. Bleich verdunsten sie Erbarmen. Sie spielen sich ins Licht nach vorn und sind ganz hintendran. Aftermusik mit Strom. Wie lange noch sind sie fähig zu leben? Und das alles ist wichtig für Bilder, um das zu wiederholen? Wer mir sagt, geh in die Stadt, dem ist die Kraft verloren gegangen, zu leben wie ein Mensch. Unter Irren Verstand gewinnen: Sie raufen sich, ob sie uns zweitausend oder dreitausend mal töten können. Sie feilschen um Raketen, als ob es darum ginge, ein Auge oder ein halbes Auge zu verlieren. Als ob es darum ginge, einen Arm oder einen halben Arm zu verlieren. Sie feilschen um Raketen, als ob sie nicht nur den halben, sondern den ganzen Verstand verloren hätten. Sie reden von Regierbarkeit, als wäre regieren schon ein Wert.

Die Pops, da haben wir's, sie wiederholten das, was um sie war, kess und spritzig. Das war es dann auch. Ihre Nachfolger registrieren fix, was wir vergessen müssen. Sie werden Komplizen ihrer Zeit, wenn sie kein Veto einlegen gegen das, was uns als erstrebenswert-lebenswert suggeriert wird: die vor allen, die zu unterscheiden vermögen, was sie gegen ihr besseres Wissen behaupten.

Was ich in Deutschland versäumt habe, weiß ich seit ich hier bin. Seit ich den Himmel sehe, die Gräser vor meiner Tür und den Kontakt zur Erde spüre. Seit ich den Mond sehe, wenn er aufgeht zwischen zwei Bergen und dem blühenden Mandelbaum auf meinem Feld, während zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der Insel die Sonne untergeht. Einmal im Jahr, wenn die Mandeln rosaweiß blühen, ist das so. Und dann im Herbst das Geräusch der Stöcke, die in meinem Tal die reifen Mandeln einzeln von den Bäumen schlagen. Der Regen, der als Kostbarkeit vom Himmel fällt und auf den Dächern gesammelt unser Wasser ist für das ganze Jahr. Und gut ist es, daß ein Auto nur zu fahren braucht und daß jung und alt sich hier noch mischen.

Vor 15 Jahren war ich zum ersten Mal auf Ibiza; seit 11 Jahren lebe ich hier. Ich liebe das alte Ibiza, das gebaut ist mit den Steinen, die von den Feldern gesammelt wurden, um dort etwas anpflanzen zu können, um Terrassen zu errichten, damit das Wasser, wenn es regnet, nicht davonlaufen kann. Mit diesen Steinen wurden Mauern und Häuser gebaut. Zuerst die Sala, dann einen Raum zum Schlafen, einen zum Kochen, für das Kind einen Raum und dann für das nächste Kind, für das Schaf und für das nächste Schaf. So entstand das. Ein Fenster entstand dort, wo der Stein aufhörte; jedes war anders, wenn es ein dicker Stein war etwas höher oder etwas mehr nach links oder nach rechts. Heute sitzen die Fenster auch da, wo der Stein aufhört, aber die Steine haben immer dasselbe Maß und so sitzt ein Fenster neben dem anderen in gleicher Höhe, in der exakt gleichen Zeile.

Das alte Ibiza ist, in unserem Sinne, nicht geplant. Die Maße entstanden an Ort und Stelle. Die Menschen versuchten nicht, Reflexionen, die ihnen nicht entsprachen einzubringen. Sie bauten wie sie lebten und empfanden: Die Sinne ergaben die Form und umgekehrt, es war eine Einheit. Das war möglich, weil kein vorgefertigtes Material die Maße vorausbestimmte und weil so das Nichtkalkulierbare mitwirkte. Wir lieben heute diese spezifischen Merkmale, die immer mehr Bedeutung gewinnen, weil sie sich sperren gegen die grassierende Ratio; weil sie ein Beweis sind für die Kraft einer nicht kopflastigen Idee, die Platz läßt für Empfindungen, Wünsche nach Wärme, mit der Selbstverständlichkeit eines Vogelnestes. Kurz, der Beweis einer Bauweise, die gesucht wird als Kontrast zu den Einheitsbauten. Die Formen des archaischen Ibiza sind durch ihre Existenz ein faszinierender Hinweis dafür. Sie verdeutlichen, warum in den schematisierten Räumen das Unbehagen immer größer wird. Wir werden wieder wach für Gefühle der Geborgenheit, die unser Kopf noch nicht verdrängt hat.

Die Alten haben Steine gesucht, jeden in Händen gehabt, einzeln ausgesucht und angepaßt. Es waren keine anonymen Steine, mit Gabelstaplern transportiert. Wir haben die sinnliche Beziehung zu Steinen verloren. Das neue Ibiza ist geprägt von scharfkantigen, gegossenen Betonsteinen, von Bloques 20x40 cm. Mit diesem Maß wäre das alte Ibiza nicht entstanden. Wir sind dem Raster verfallen, verplant, sortiert, programmiert. An kaum einem anderen Ort wird der krasse Gegensatz so offenkundig deutlich wie hier. Die Rohbauten der neuen Häuser erinnern in der seriellen Schachtelung an die gemauerten Kästen auf den Friedhöfen, nur größer, wo die Menschen schon zu Lebzeiten einziehen, eingerichtet mit "Muebles de la Fabrica" versteht sich. Wir benutzen die Fertigsteine, die uns angeboten werden, weil wir keine kritische Distanz zu den uns umgebenden Formen haben und uns nicht klar sind, daß wir uns durch die Benutzung dieser Steine einer zwangsläufigen Form ausliefern. Das Maß 20, 40, 80, 120 usw. wird zum Raster. Wer ein Haus entwirft, ist zunächst frei von diesem Raster, wenn er nicht schon im Kopf ein Produkt dieser Proportionen geworden ist. Sobald er aber nicht nur auf dem Papier das Haus errichtet, wird er beim Bau durch ökonomische Überlegungen angepaßt an das rationell Machbare, an das Angebot. So nimmt die Schematisierung ihren Lauf.

Jede Vermaßung erzeugt Unbehagen. Die Größe der Fenster z.B. oder der Türen ist abhängig von den Steinmaßen usw. Sie werden entsprechend standardisiert und vorfabriziert, und so entsteht die Zwangsjacke, in Räumen leben zu müssen, die nicht unseren Intentionen entsprechen. Die Suche nach Altbauwohnungen ist ein Beleg für die Suche nach einem anderen Maß. Selbst die Multiplizierung in der Kunst durch das Multiple hat sich als große Abnutzungsidee erwiesen, die zudem durch das serielle Angebot das individuelle Urteilsvermögen über Qualität einschränkt. Wer traut sich denn noch, visuelle Qualitätsunterscheidungen zu treffen? Wir vertrauen anderen. In uns ist der Instinkt überlagert von Richtlinien, vorgegeben von denen, die behaupten, es besser zu wissen - von den Programmierern, dem Markt. Sie zwingen uns, in Zeilen zu denken. Wir sind verunsichert. Unbeachtet von den ideologischen Zielen der großen Parteien formiert sich die DIN-Gesellschaft.

Die hektischen Bemühungen um Wachstum bedingen serielle Herstellung, diese wiederum braucht Maschinen und die ersetzen Menschen... Aus diesem Teufelskreis kommen wir nicht heraus. Wer sich dagegen auflehnt, kämpft gegen den Rest der Welt. Es unterbleibt die Denkpause zur Bestandsaufnahme, zur Projizierung der auf uns zukommenden Lebensbedingungen. Die Studie "Global 2000" und der "Club of Rome" werden ignoriert und gehen nicht in die Köpfe der Programmierer. Kurskorrekturen bleiben aus. Wir sind im Unklaren. Das Ausmaß des Dilemmas ist verschwommen, weil Demokratien Projektionen mit daraus entstehenden unpopulären Programmen schwer verkraften. Die Zusammenhänge müssen aber erkennbar werden; sie müssen in unsere Köpfe. Wir zerren an unserer Lebensform, einer in die Richtung, einer in die andere. Weiß der Stärkere die Richtung? Solange es nicht gelingt, Rastersysteme so anzuwenden, daß sie nicht nur ökonomische Vorteile ausnutzen und der rationellen Herstellung von "Mehrwert" dienen, wird Architektur für eine menschlichere Lebensform nicht möglich sein. Das heißt, die Maßeinteilung eines Steines muß sich den Marktmechanismen entziehen können und darf nicht zu einer Vernormung im bisherigen Umfang beitragen. Gedankenlos übernommene Rastersysteme entbinden uns der immer wieder neu vorzunehmenden ästhetischen Überprüfung.

Kinder bauen mit LEGO-Steinen die unterschiedlichsten Häuser, Bahnhöfe, Kirchen. Alle haben das gleiche Raster, sind unverkennbar LEGO-Land, wie die Werbung es auch treffend nennt. Was auch immer gebaut wird mit gleichen Steinen, Kirchen oder Kinos, wird die gleiche Ausstrahlung haben. Je größer ein Bauelement ist, um so geringer die Variationsbreite - und die Bauelemente werden größer! Das Maß ist das Ergebnis der Sinne - oder sind unsere Sinne vom Maß beeinflußt? Die alte Frage: Bestimmt die Form den Inhalt oder der Inhalt die Form? Es ist eine Wechselwirkung. Jetzt bringt die Rationalisierung Formen hervor, die unser Denken negativ beeinflussen und unsere Sinne irritieren. Standardisierte Massenproduktion mit allen nivellierenden Verfallserscheinungen und der daraus resultierenden Problematik darf keine wirtschaftliche Notwendigkeit sein, die jede Regelung unterbindet, die Normen zu ändern. Wir müssen zurückkommen zu der Einheit der alten Ibizenker, wo Maß und Sinne, wo Form und Inhalt übereinstimmen.

Wir müssen nicht alles rückgängig machen, aber wir müssen an die Quellen zurück, um das, was unser Unbehagen bewirkt, erkennen und korrigieren zu können. Das geht nur durch Kritik - auch von denen, die noch keine Lösungen parat haben. Die anstehenden Änderungen, die nach den genannten Zeit-Studien getroffen werden müßten, sind so gravierend, daß sie irreal wirken auf die Verfechter der heute praktizierten Tagespolitik. Wo die Fahrt jetzt hingeht, ist absehbar. Gegeninitiativen, mögen sie noch so grotesk erscheinen, in Relationen zu den Ergebnissen der heute verfolgten Ziele sind sie es nicht. Um weiter existieren zu können, entwickeln wir unsere Verdrängungsfähigkeit und Ignoranz zu gespenstigem Ausmaß. Wir sind lieber blind als erkennen zu müssen.

Ich beziehe damit einen Standpunkt, von dem aus es sinnlos erscheint, weiter Bilder zu malen. Oder sind Bilder für die Mobilisierung aller geistigen Kräfte gerade jetzt notwendig? Sind Bemühungen um geistige Formulierungen als Gegengewicht zu den zwei auf Macht und Geld aufgebauten Weltblöcken noch imstande, als letzte alternative Kraft zu einem verändernden Denkansatz beizutragen? Darauf suche ich die Antwort - mit der wir leben können.

Bemühungen der Künstler, immer wieder der Zeit entsprechend proportionierte Ordnungssysteme zu entwickeln, um so das Maß einer Zeit zu finden, sind Korrekturen an einer ins Chaos sich auflösenden Formlosigkeit. Neue Proportionen fallen dann wieder der Rationalisierung zum Opfer, und so geht das weiter. Wir sind am Ende einer Zeit. Das Bauhaus hatte eine Zeit, wir leben in einer anderen. Und wenn die Kunst einen Sinn hat, dann in der Aufgabe, in ihrer ganzen Bandbreite aufkommenden Verkrustungen entgegenzuwirken, damit ein neues Maß gefunden werden kann für das, was wir empfinden.

Wenn Zwänge von Gruppeninteressen zu groß werden, wird die Eskalation der Unzufriedenheit die Menschen auf die Straße treiben. Wie zäh das Einsicht wird, spiegelt sich in der Resignation und Hoffnungslosigkeit nicht nur der jungen Generation. Was wäre das für eine Jugend, würde sie sich nicht auflehnen gegen das Jonglieren mit Moralbegriffen, nach jeweiligem Nutzen, bis zur Umkehr unserer Wertvorstellungen. Erschütternd ist die Verwunderung, mit der über die Dialogunfähigkeit der Jugend gejammert wird. Die gleichen Leute, die ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben, sind es, die nicht begreifen, daß man mit Hohlformeln keine Dialoge führen kann.

Ein schöner Tag, draußen, ich nagele mit einer Leiste das wackelige Tischbein fest. Wir essen oft im Freien, an der dichten Hecke mit blaßblauen Blüten, die uns vor dem Westwind schützt. Die Teller sind halbvoll und sind zu voll, der Tisch steht schräg. Eine Leiste mindestens, als Strebe, fehlt am Tisch. Wir sitzen still. Eine sehr dünne Leiste könnte es sein, statisch gesehen. Morgen vielleicht. Und die Antenne. Aus dem Haus klirrt verzerrt Musik. Auf der Mittelwelle bekommst Du abends, wenn die Sonne untergeht, den NDR, auf meiner Skala rechts. Und den Deutschlandfunk aus Köln - jede Stunde Nachrichten. Willst Du? Köln ist nicht weit und Düsseldorf gleich nebenan. Ich will es nicht mehr hören, schreit Ingrid. Ich gehe rein, stelle die Kiste ab. Die beiden Hunde liegen Stirn an Stirn entspannt am Boden, als hätte man sie absichtsvoll so hingelegt.

Ich spreche für mich und was für mich wichtig ist, ist nicht für alle wichtig. Wer nur auf dem Land gelebt hat, braucht die Stadt, um zu wissen, was das Land ist. Wer nicht beides kennt, weiß nicht, was uns zu dem gemacht hat, was wir sind.

Am Abend, wir gingen mit Freunden essen. Die Sonne ging rosa unter nach einem heißen Tag. Das Restaurant lag nicht weit vom Meer. Am Nebentisch stand ein Kinderwagen. Darin lag ein Kind mit einer Zitronenscheibe auf der Stirn und schlief. Unentwegt klatschten Hände auf nackte Haut. Ist die Zitronenscheibe gegen die Moskitos? fragte ich den Vater des Kindes. Ja, sagte der Vater. Und hilft das? fragte ich den Vater. Nein, sagte der Vater. Gedanken, Bilder, wir formulieren und malen, um etwas von dem Durcheinander in und um uns in Ordnung zu bringen. Wir malen Bilder - und denken an morgen?

Ein Leben ist zu kurz, um weiterzukommen, jeder fängt wieder von vorne an: jeder will selbst die gleichen Fehler machen. Da lag also das Kind mit einer Zitronenscheibe auf der Stirn und schlief. Ist das gegen die Moskitos? Ja, sagte der Vater. Unentwegt klatschten Hände auf nackte Haut. Wir haben Hoffnung. Wir malen Bilder und denken an morgen. Und hilft das? Ich stand auf meinem Dach und sah, wie der Nebel kam. Die Insel ist doch schön, dachte ich. Weißer Nebel soll kommen über tausend laute Bilder. Ich wohne in einem alten Haus. Ich habe Neues dazugebaut mit Bloques 20x40.

(5) Micus, Katalog, Wienand Verlag Köln, 1986; S. 80 - 83