Franz Joseph van der Grinten: Prüfstein der Notwendigkeit:
Bilder organisch wie ein Baum. 1989

Eduard Micus ist 1925 in Höxter an der Weser geboren worden. Nachdem ihn 1943/44, während eines langen Krankenlagers, Reinhard Schmidhagen in die Malerei eingeführt hatte, ging er 1948 an die Kunstakademie in Stuttgart und war dort bis 1952 Schüler von Willi Baumeister. Aus allen Bindungen in Gruppen und Zusammenhängen zog er sich 1972 auf die Baleareninsel Ibiza zurück; er lebt dort in Can Portas/Jesus, inmitten der Kargheit einer archaischen Landschaft zwischen tausendjährigen Bäumen in einem weilßen Haus von zeitlos überkommener, maurischer Bauart. Keine Flucht aus der Zeit, eher ein Gang zu den Quellen und ein Eingehen in den größeren, weiter gespannten Atem der waltenden Welt. Prüfstein der Notwendigkeit: Bilder, so organisch wie ein Baum. Inneres Wachstum, Wachstum von innen nach außen, Wachstum aus dem Geist in die Sichtbarkeit, vollzogen in dem Bewußtsein, das, was man tut, sei exemplarisch für das, was geschieht. Geschichte bezieht ihre Spannung aus dem, was geschichtslos da ist, wenn das, was sich ereignet, sich volIzieht. Keine geschichtslose Malerei freilich ist die, die Eduard Micus betreibt, sondern eine heutige, auf den Tag bestimmte, vom Tag in ihrer Erscheinung mit gefärbte, die sich denn doch in das Schwingen eines welt größeren und viel weitergefaßten Gezeitenschlages einbezogen weiß. Bräuchte es ein Weltmodell, so ist dies in den Bildern von Eduard Micus dual angelegt und erfahren. Auch als solches ist es zwar vielleicht nicht vom Kitzel der Aktuatitäten geschüttelt, aber es geht aufs Ganze der Existenz. Das ist wohl auch der Grund, warum es im abendländischen Kulturkreis kaum je so offen zutage trat, sondern sich eher außerhalb der eigentlichen Information im Gegensatz etwa von Schwarz und Weiß, in Licht und Schatten und in der relativen Unverträglichkeit scharfer Farbkontraste zu erkennen gegeben hat. Die scharfen Kontraste sind die Sache von Eduard Micus nicht; das Grundsätzliche beansprucht auch und vor allem Schichten jenseits der einfachen Sichtbarkeit, wenn es denn grundsätzlich sein soll und also von allgemeinerer Gültigkeit. Das duale Prinzip - der praktischen Logik so fremd, weil alles Raisonnement weit vor dem Hinlangen an die Grenzen seiner Reichweite stößt -, es hat sein geprägtes Zeichen von Urzeiten her im fernen Osten: Yang und Yin in ihrer Umschlingung die Einheit des Seins bildend aus den Gegensätzen, die einander bedingen und ohne einander so wenig sein könnten, wie es das Ganze vermag; die weit ausschwingende Doppelkurve, durch die der Kreis in eine schwarze und eine weiße Zone sich teilt, die schwarze aber von einem weißen, die weiße von einem schwarzen Zentrum beherrscht wird, welche beide die Dynamik des Umeinanderkreisens eher fördern als hemmen. Bild der Polarität der Welt: männlich-weiblich, himmlisch-irdisch, taghaft-nächtlich; Formel für alles. J. E. Behrendt (in: Nada Brahma, Die Welt ist Klang, 1983) setzt es gleich mit dem Tonverhältnis der Oktav, des harmonischsten der Akkorde, das der linearen Teilung von eins durch zwei entspricht. Es ist diese Teilung, die, unbeschadet unterschiedlicher Größe, die innere Proportion der Bilder von Eduard Micus bestimmt. Sie tut es intuitiv, ohne spekulativen Vorbedacht, seit 1952, und es spricht für die geistige Tragfähigkeit einer Grundentscheidung, wenn sie sich bei großer Fruchtbarkeit nicht abnutzt, sondern eine Frische behält, wie sie Leben überhaupt in seiner Erneuerung kundgibt. Senkrechte Mittelteilung also, zwei Hälften durch sie markiert, aber nicht geschieden. Stets ist der Kontrast ein relativer, stets auch ist er nicht unvermittelt: Die Grenze, sei sie Strich, Knick, Naht, Kleberand, bloßer Farbsprung oder Sprung von der Materie ins räumlich Offene, ist vielmehr gewissermaßen perforiert: porös, durchlässig; sie gibt der einen Seite Zugang zur anderen; sie verwischt sich nicht wirklich, aber erweist sich als Zone wechselseitiger Beeindruckbarkeit und Empfänglichkeit. Nie ist ja etwas ganz das eine oder das andere, stets das eine fürs andere mindestens so etwas wie ein Ferment. Relative Ruhe, relative Dramatik; relative Lichtheit, relatives Dunkel; relative Leere, relatives Gefülltsein; relative Monochromie, relativer Farbreichtum: nichts zu sehr, und das eine nicht ohne das andere. Der Gegensatz steigert; die Gabe der lntensität wird in wechselseitigem Austausch beiden Hälften, zwei Ganzen in ihrer existentiellen Vereinigung zu einem umfassend Größeren, zuteil. Das ist nicht Sache äußerer Größe; auch dies ist relativ. Raumfüllenden, raumgreifenden, raumumfassenden Bildern stehen, ohne daß diese damit zu einem beilaufigen Parallelprogramm würden, kleinste gegenüber, dem in langer Bemühung allmählich sich Formierenden das Improvisierte; aber was der Augenblick gebiert, hat keine geringere lnkubationszeit zur Voraussetzung; alles ist Produkt elnes permanenten Arbeitsprozesses. Eines gelassenen, eines, der sich am unbeirrten Wachstum der alten Bäume onientiert: Alles wird Frucht.
Die Entstehung eines Bildes als etwas ganz und gar selbstverständlich gewordenes, organisch, die Verselbständigung der Malerei als Vorgang. Das setzt voraus, zwar sehr viel nachzudenken, aber den Akt des Malens freizuhalten von Spekulationen und Reflexionen und allem, was ihn per Denksystem regulieren könnte. Das Malen, wenn es vollzogen wird, somit ein intuitives, wenn auch freilich nicht entfesselt, sondern dadurch modifiziert, daß in der Konzentration auf die leere Fläche alles innerlich Ungeordnete zur Klärung gefunden hat und zu der drängenden Ruhe und gestillten Unruh, die im Bild sich manifestieren will. Wägen im tun, Erwägen im Anschauen; eine kritische Gemeinsamkeit, dieses Leben inmitten der Dinge, die entstanden sind, dabei sind, zu entstehen, und an den Punkt gelangen, an dem sie entstehen werden.
Die kontinuierliche Ernte ist die von bisher dreieinhalb Jahrzehnten. Die Bilder aus der Frühe der 5Oer Jahre, die ersten, in denen sich die Teilung und Vereinigung der Hälften vollzogen hat, waren auf kleineTafeln verhältnismäßig pastos gemalt. KIar bemessene Teilflächen von entschiedenerer Farbigkeit banden sich ins gebrochene Weiß und gingen mehr und mehr darin auf; der Duktus nahm die Führung an sich, die Linie, die teilende, als ein Körpermal. Ungleichgewichtig, kontrastierend wurden die Hälften aus früher Vereinzelung erst später allgemein. Zum Malen trat neben dem Zeichnen und der mehr kalligraphischen Anwendung dünner Farbflüssigkeiten die Improvisation mit gefundenen Materialien hinzu: Karton in brüchig-wulstiger Faltung der Mittellinie, Wellpappe mit vorgegebener Teilung aus venschollenen Zweckbindungen: Farbe, Struktur, Umriß, Einteilung, tastbare Verwerfungen, ein in Stille reiches Arsenal, unermüdbar aus der Frische des wissenden Sehens. Suchen, Finden, Wählen, das Aussondern und Einbeziehen bis hin zu den großen Material-Assemblagen der letzten Jahre in ihrer endgültigen Unaustauschbarkeit; Gleichnis alles, auch das Kreuz die Teilung. So etwas wie Improvisation also auf der einen Seite; im graphischen Bereich entspricht dem die Bevorzugung der Monotypie. Auf der anderen ein schon in den Methode geklärtes, auf die Grundordnung gebrachtes Vorgehen: 1962 entstanden, vorbereitet durch das Augenmerk aufs Sichvortun der Knickränder zweier zusammengeklebter Blätter, erste Coudragen, Bildflächen, nähend zusammengefügt durch eine Mittelnaht und deren Betonung durch den doppelten Saum; die plastische Trennungslinie als eine ganz und gar stoffliche, und stofflich denn auch in der Folge die Einträge in die Teilflächen, beziehungsweise in die eine der beiden, die der Leere die FüIle, der Ruhe die Unruh entgegenzusetzen hatte. Fand auch dies seine Weiterungen ins Plastische von Füllung und Polsterung hinein und mochten auch hier inmitten der Weiße die Iebhaften Farben stofflich Urständ feiern, so führte doch der Weg im Ganzen in die einheitliche Helle und ihre Lichtunterschiede im Weiß: subtile und sensible Reliefierung, leise nicht im Rückzug, sondern durch eine schweigende Präsenz, Lappungen, Faltungen, Gefranstheit, die Knäuelung von Fäden und ihre im Fluß angehaltene Bewegung, dichte Parallelvernähungen und das in die Vereinzelung Sich-Schwingen von etwas Ganzem oder einem Teil: naturhaft, lebensnah, organisch, ein weises Seinsexempel, aller momenthaften Erschütterbarkeit enthoben. Vor dieser Weite ist die Expansion der neueren Bilder zu begreifen, von soviel Entrückung zurück führt der Schritt in so bedrängende Nähe. An der Methode hat sich nicht entscheidend etwas geändert. Die Malerei ist wieder auf dem Plan, umgetrieben und frei im Duktus wie vorher nicht, aber beherrschend bleibt die Mittelnaht, eine plastische meist, mindestens aus Verwerfung sich ergebend, und die Malfläche behält übers Ganze eine hauthafte, geradezu vibrierende Empfindlichkeit. Dünnes Papier als Malgrund, der festen Leinwand naß sich kräuselnd in Anstückung aufgeklebt und diese dem Umriß der Bogenfolgen schneidend angepaßt und unverspannt; Bildtücher von handfester Konsistenz, und ihrerseits in Grenzauseinandersetzungen mit dem Umraum geratend. Die Malerei selbst: Flächenkörper von lebhafter Farbigkeit stauen sich auf der rechten Seite zu einer Ballung sich drängender Kräfte, die durch die Brüche und Verwischungen der Grenzlinien spurenhaft sich in die linke FIäche einmischen, welch letztere selbst leer und nuhig bleibt, leer und ruhig freilich nur in Relation zur anderen; auch hier vielmehr mischt und ballt sich Farbigkeit, aber wolkenhaft und auf einen gemeinsamen Ton gebracht, der, neben der Lautheit und Schwere der Gegenseite, alles sich in Stille und Leichtigkeit schwebend aufheben Iäßt. Aber ist es nicht vielmehr so, daß entsprechend der gewohnten Leserichtung, man von diesem Ort den Ruhe in die Zone des Konflikts erst hineingerät? Die Dialektik von Yin und Yang: das eine bedingt das andere, unentrinnbar, unausweichlich, nicht durch die freie Wahl der Blickrichtung zu entschärfen. Wenn ein Maler seine eigenen Verfangenheiten so weit zuruckdrängen kann, malend nur der Malerei hingegeben zu sein, dann malt ,,es", wie Micus sagt; es malt mit seiner Hilfe, mit ihm als Instrument. Das ist die Spannung des Künstlers: zugleich zu gebieten wie ein König und zu arbeiten wie ein Sklave, zielgerichtet willenlos, kritisch offen, und stets im Dienst dessen, was
entsteht. Ein Strich gebiert den nächsten und der dritte schon einen Rhythmus, und als ganz persönlicher ist er ganz allgemein. Em neues Maß: Pflicht und Gabe. Ernst Wilhelm Nay hat sein Traktat über den Gestaltwert der Farbe 1955 mit dem Satz abgeschlossen: Bilderfügen dem Weltganzen ein Gran Liebe hinzu. In ,,Das Maß der Sinne" schreibt Eduard Micus 1986, ähnlich abschließend: ,,Gedanken, Bilder, wir formulieren und malen, um etwas von dem Durcheinander in und um uns in Ordnung zu bringen."

(6) Micus Katalog, Overbeck-Gesellschaft St. Petri Lübeck,1989; S. 178 - 180