Transformationen des Bildnerischen
Zwischen mythologischer Lebenswirklichkeit
und abstrakter Realität
"Frei sein ist,
das Erreichte zerstören …"1

Obwohl Eduard Micus nicht an ihr teilgenommen hat, kann die 1972
von Harald Szeemann verantwortete documenta 5. Befragung von Realitäten
- Bildwelten heute als ein wichtiger Angelpunkt für sein Werk
betrachtet werden, da hier Entwicklungen und Tendenzen kulminierten,
die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren vorbereitet hatten und
die Micus sehr aufmerksam und durchaus kritisch zur Kenntnis nahm.2
Dabei sind die Auswirkungen dieser folgenreichsten Ausstellung für
zeitgenössische Kunst im 20. Jahrhundert noch bis heute zu spüren.
Nicht nur kam es in der Folge zu einer Neudefinition der Institution
des Museums, sondern durch die erstmalige Berücksichtigung von
Kunstformen wie Fluxus und Happening wurde Kunst vor den Augen
eines internationalen Publikums in den öffentlichen Raum verlegt und
auf ihren Ereignischarakter hingewiesen, als eine Realität außerhalb
des Museums. Das traditionelle Museum hatte spätestens ab diesem
Zeitpunkt seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst verloren.3
Ein zentraler Bereich der documenta 5 befasste sich mit dem Thema
der "individuellen Mythologien", das die unterschiedlichen Erscheinungsformen
in der Beziehung zwischen Künstler, Kunstwerk,
öffentlichem Raum und Rezipienten offenlegte. Durch eine sich ständig
neu orientierende Selbstreferenzialität entstand eine Differenz
und Komplexität zwischen Künstler, Kunstwerk, Gesellschaft und öffentlichem
Raum, die eine noch nie dagewesene Präsenz und Wirklichkeit
der Kunst einforderte.
"Die Motivation jedes Künstlers ist eigentlich der Narzissmus, vielleicht
auch der ›Wille zur Macht‹ (Nietzsche). Für mich ist aber die
Motivation weniger interessant als vielmehr das Thema." So zitiert
Johannes
Cladders 1972 in seinem Textbeitrag zur documenta 5
Marcel Broodthaers.4 In der Abteilung 16 unter dem Thema "Selbstdarstellung
" im Bereich der "individuellen Mythologien" auf der
documenta
5 nahm auch Michael Buthe teil, der Vetter von Micus.
Der 19 Jahre jüngere Buthe reiste 1970 erstmalig nach Marokko, wo
er in die Welt des maghrebinischen Orients eintauchte, die ihn bis
zu seinem Tod 1994 nicht mehr losließ. Seine von Dezember 1971 bis
Februar 1972 in der Berner Galerie Toni Gerber gezeigte Rauminstallation
Hommage an die Sonne, die auch im Ringbuch zur documenta
5 gezeigt wurde, machte deutlich, dass die Ausweitung des
Kunstwerks in den Raum nur über die Referenz zum Künstler selbst
möglich geworden war, sei es durch sein Abbild oder seine eigene
Präsenz im Raum.5 Das Gemeinsame beider Künstler, ihre gegenseitige
Beeinflussung lässt sich unter dem Aspekt der "individuellen
Mythologien" am besten fassen, der bei beiden in ganz unterschiedlicher
Art und Weise zur Ausprägung gekommen war.
Der 1925 im ostwestfälischen Höxter geborene Micus und der 1944
in Sonthofen/Allgäu geborene Buthe gehören zu derjenigen Gruppe
von Künstlern, deren Leben und Werk eng mit Mythologemen in
Verbindung gebracht werden können, wie es auf der documenta 5
beispielhaft vorgestellt wurde. Dabei dienen sie einerseits dazu, die
inhaltliche Aussage und Wirkung des Kunstwerks zu erhöhen und andererseits,
sich mit Aspekten der eigenen Biografie auf einer Metaebene
zu verbinden, um so die bildnerische Form einer inhaltlichen
Referenz anzunähern, die zu einer neuen Realität des Kunstwerks
führt. Einer der zentralen Mythen, um die es vor allem bei Micus geht,
ist die im 8. Buch von Ovids Metamorphosen erzählte Geschichte
von Daidalos und seinem Sohn Ikarus, die ihre Flucht von der Insel
Kreta behandelt. Daidalos hatte Ariadne den entscheidenden Hinweis
gegeben, der später Theseus nach seinem Kampf gegen den
Minotauros zugute kommen sollte. Um das Labyrinth wieder zu verlassen,
bediente sich dieser eines abgewickelten Garnknäuels - der
Faden der Ariadne. Zusammen mit seinem Sohn Ikarus wurde Daidalos
deswegen von Minos in das von ihm selbst errichtete Labyrinth
eingesperrt. Da Minos die Seefahrt kontrollierte, erfand Daidalos Flügel
für sich und seinen Sohn. Dazu befestigte er Federn mit Wachs
an einem Gestänge. Vor dem Start schärfte er Ikarus ein, nicht zu
hoch und nicht zu tief zu fliegen, da sonst die Feuchte des Meeres
beziehungsweise die Hitze der Sonne zum Absturz führen würde.
Zuerst ging alles gut, doch dann wurde Ikaros übermütig und stieg
so hoch hinauf, dass die Sonne das Wachs seiner Flügel schmolz, die
Federn sich lösten und er ins Meer stürzte.6
"1932 wollte ich Flugzeug spielen, lief einen steilen Berg hinab und
stürzte. Das war der Anfang einer langen, schmerzhaften Geschichte,
der ich dann Jahre später mein Leben verdankte. Ich war 7 Jahre
alt und noch mal 7 verbrachte ich - mit 2 Unterbrechungen - im
Bett liegend, fast immer bis zum Hals in Gips." So beschrieb Micus
im Jahr 2000 ein Ereignis, das ursprünglich wohl nicht mit seiner
Krankheit (der Künstler litt vermutlich unter Knochentuberkulose) in
Zusammenhang zu bringen war, aber zu seiner eigenen Legendenbildung
entscheidend beitrug.8 Mit großformatigen Arbeiten, die erst
viele Jahrzehnte später entstanden, erhielt diese Erzählung seinen
künstlerisch gestischen Ausdruck, der den griechisch-minoischen
Mythos von Daidalos und seinem Sohn Ikarus zu einem Leitbild der
eigenen Lebenswirklichkeit erhob. Damit identifizierte sich Micus
mit einem für ihn adäquaten Mythos, der ihn als individuelles Leitmotiv
sein Leben lang begleitete. Durch eine polychrome Mal- und
Schichttechnik verwandelte der Künstler die Leinwand zu einer Form,
die das Motiv des geflügelten Ikarus assoziierte. Interessanterweise
schuf Micus nicht das Bild des aus den Höhen kopfüber ins Meer
stürzenden Körpers, wie es beispielsweise als Holzschnitt zu einer
Buchillustration von Andrea Alciati 1536 dargestellt wurde oder das
Pieter Brueghel dem Älteren zugeschriebene Gemälde Landschaft
mit dem Sturz des Ikarus zeigt (um 1555/58).9 Es ist auch nicht der
im Blau des Weltalls unter Sternen schwebende Icare, wie ihn Henri
Matisse 1943 schuf.10 Micus stellte die Flügel in den Vordergrund,
als die mit dem Körper verbundenen Flugwerkzeuge, die durch den
"Übermut" zu Bruch gingen. Als wesentlich zeigt sich hier, dass sich
Micus nicht außerhalb des Mythos sah, und diesen auch nicht als Illustration
zu einem wichtigen Ereignis in seinem Leben verwendete.
Seine Ikarus-Bilder erscheinen als die Transformation der eigenen
Biografie in einen mythologischen Kontext, der sich noch durch die
Begegnung mit der archaisch anmutenden Landschaft der Baleareninsel
Ibiza verstärkte.
Micus besuchte Ibiza 1966 zum ersten Mal.11 Die Insel ließ ihn ab
dieser Zeit nicht mehr los, solange, bis er sich 1972 auf ihr niederließ.
Im Jahr 2000 beschrieb er rückblickend seine Eindrücke: "Vor
34 Jahren war ich zum ersten Mal auf Ibiza; seit 28 Jahren lebe ich
hier. Ich liebe das alte Ibiza, das gebaut ist mit den Steinen, die von
den Feldern gesammelt wurden, um dort etwas anpflanzen zu können,
um Terrassen zu errichten, damit das Wasser, wenn es regnet,
nicht davon laufen kann. Mit diesen Steinen wurden Mauern und
Häuser gebaut."12
So erlebte Micus auf Ibiza das ursprüngliche, noch intakte Verhältnis
zwischen Mensch und Natur in seiner Unversehrtheit, das in all
seinen Erscheinungsformen seiner eigenen Auffassung von Kunst
und Leben nahestand. Vielleicht fühlte er sich auch an seine Zeit erinnert,
als er nach Ende des Zweiten Weltkrieges in einer Holzhütte
am Waldrand von Höxter arbeitete und die durch die Bäume hindurch
scheinenden Sonnenstrahlen zu malen versuchte. Der biografische
und künstlerische Dialog mit einer mythologischen Metaebene
steuerte in seiner Selbstreferenzialität der Einheit von Mensch
und Natur entgegen. Dabei verlief die Befreiung von künstlerischen
und gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen zielgerichtet auf
dieses Arkadien zu, das den Künstler immer wieder auf sich selbst
zurückwies, um fortwährend neu seine eigene Position zu befragen.
Eine Position, die der Auffassung Paul Cézannes nahestand, der die
Kunst als eine Harmonie parallel zur Natur bezeichnete. "Nur Dummköpfe
denken", so Cézanne in dem 1926 in Paris veröffentlichten
Gespräch mit dem provenzalischen Schriftsteller und Kunstkritiker
Joachim Gasquet, "dass der Maler immer der Natur unterlegen ist!
Er ist ihr nebengeordnet. Wenn er nicht eigenwillig eingreift - verstehen
Sie mich recht. Sein ganzes Wollen muss schweigen."13
Die Ursprünglichkeit, Unberührtheit und Unversehrtheit dieser Insel
war der ideale Ort, um den Kunstbetrieb und alle damit zusammenhängenden
Einflüsse hinter sich zu lassen, was 1972 schon etwas
bedeuten musste.14 Damit aber fehlte Micus fortan etwas ganz
Entscheidendes. Seit der documenta 5 gehörte zur Präsenz des
Kunstwerks nicht nur die kreative Referenz zwischen Künstler und
Kunstwerk, sondern ebenso der gesellschaftliche Kontext mit dem
sich daraus exponierenden Rezipienten, dem im weitesten Sinne
kunstinteressierten Publikum, an das die Präsenz des Kunstwerks
gerichtet war. Dieses Publikum war in den Rauminstallationen und
-inszenierungen Buthes ein wichtiger Bestandteil, ohne den seine
Arbeiten nicht ihre Wirkung erzielt hätten. Für Joseph Beuys, der mit
einem legendären Beitrag ebenfalls an der documenta 5 teilgenommen
hatte, wurde dieses Publikum durch seine Idee der Sozialen
Plastik zentraler Bestandteil, der in der Ausweitung des Kunstwerks
einen festen und zuweilen aktiven Platz bekam. Ende der 1960erund
Anfang der 1970er-Jahre war die Entwicklung der Kunst bereits
so weit, dass der Rezipient zum Teilhaber des Kunstwerks, seiner
Form und seines Inhaltes geworden war, ob in der freien Natur, im
urbanen Raum, in der Galerie oder im Museum.
Selbst 27 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich das
Kunstwerk noch nicht vollständig von tradierten Konventionen befreit.
Es musste dahin zurückgegeben werden, woher es gekommen
war, entweder zurück an die Natur, in die Gesellschaft oder in das
Atelier. Die neue Realität und Präsenz des Kunstwerks im Jahr 1972
manifestierte sich in seiner Ausweitung in den öffentlichen Raum hinein,
mit einer klaren und eindeutigen Referenz: der Betrachter, der
Rezipient, der Konsument, das kunstinteressierte Publikum. Klar wurde,
dass ein künstlerischer Neuanfang nur über den Rezipienten zu
erreichen war, denn nicht nur Künstler und Bildträger mussten sich
"entleeren", auch der Betrachter musste seine überkommenen Urteile
und Konventionen im Sehen, Denken und Fühlen von einem
"Nullpunkt" her überwinden und durch neue ersetzen. Beuys war
der radikalste unter den teilnehmenden Künstlern der documenta 5.
Er entwickelte seinen Kunstbegriff aus der Plastik und sprengte
deren
tradierte Grenzen von Form, Material und Inhalt. Seine Auffassung
von Plastik führte zu einem neuen Kunstbegriff, der die konzeptionelle
und dialogische Ausweitung in die Gesellschaft vorsah.
"Denken ist für mich Plastik. Vor allem der Entstehungsprozess interessiert
mich, da wo der Mensch frei ist … wo er selbst Dinge schaffen
kann. […] Im Grund ist der Entstehungspunkt für eine Plastik interessanter
als die Plastik selber."15
Liest man Micus' Lebenslauf, wie er ihn 1977 für die Hamburger
Galerie Vera Munro formulierte, wird deutlich, dass er 1948 an die
Stuttgarter Kunstakademie zu Baumeister gegangen war mit dem
Ansinnen, "Maler" zu werden. Dieser wollte aber seine Arbeitsmappe
gar nicht erst anschauen, sondern Micus erzählte später, dass
Baumeister die "Tastversuche seiner Schüler nicht sehen" wollte.
"›Lass Deine Mappe zu! … Meine Aufgabe ist es, Euch zu leeren‹,
(mit zwei e)", zitierte Micus Baumeister.16 Letzterer wusste genau, wovon
er sprach, denn gerade er als ehemals entarteter und verfemter
Künstler wusste nur zu gut, dass nach 1945 ein Neuanfang gefunden
werden musste, der nur ausgehend von einer völligen Reduktion
bildnerischer Mittel möglich sein konnte. Als Grundlage und Wegweiser
diente sein 1947 erschienenes Buch Das Unbekannte in der
Kunst. Hiermit veröffentlichte er seine Kunstauffassung des "autonomen
Kunstwerks", die in ihrer Konsequenz zur "völligen Entleerung
des Kunstbegriffs von aller Inhaltlichkeit" führen musste.17 Micus stellte
sich diesem Einfluss. Seine Bilder "leerten" sich. Tastend versuchte
er, den Bildgrund durch Formen, Linien und Farben neu zu ordnen,
ihm Struktur zu geben. Mit dem Wechsel von der ostwestfälischen
Idylle der Holzhütte am Waldrand von Höxter in das zerstörte Stuttgart
vollzog sich bei Micus ein entscheidender Wandel, nicht zuletzt
ausgelöst durch seinen Lehrer Baumeister. Micus löste sich vom Gegenstand
und wandte sich abstrakten Formen und Strukturen zu. Im
Rückblick könnte man fast meinen, dass er die "Malerei verlor". Sein
Verhältnis zum Bildgrund änderte sich grundlegend, bis er zu einer
Ordnungsstruktur fand, die auf einen strukturellen Dualismus abzielte,
für den die Fläche des Bildgrundes als Experimentierfeld diente.
"Der Umgang mit den elementaren Mitteln der Malerei machte uns
frei von den fixierten Vorstellungen, die in jedem von uns spukten."18
So ist die Zeit bei Baumeister durchaus als eine Zeit der Katharsis
zu verstehen, die den Künstler von überkommenen Vorstellungen
befreite und zu einer elementaren Reduktion seiner künstlerischen
Bild- und Formsprache führte. "Die ›Leerung‹ ließ es zu, neu zu beginnen,
nach allen Richtungen, ob zu Bild, Bühnenbild, Plakat oder
was immer. Alles optisch Wahrnehmbare muss sich im Bild organisieren,
Teil eines geordneten Ganzen werden."19
Das Stillhalten dauerte immerhin über vier Jahre: "Die langsame
Verlagerung meiner Bildelemente nach links und rechts zu den Rändern
hin hatte schließlich die Konsequenz der Teilung meiner Bildfläche
durch eine Linie in der Mitte. Damit begann die Loslösung von
meinem Lehrer. Das geschah nach 4 Jahren."20 Dann brach es aus
Micus heraus: "Ausgehungert von der lang geübten Sparsamkeit mit
Farben bekam ich 1952 so etwas wie einen Farbrausch. Mit den alten
Ölfarben von Reinhard Schmidhagen malte ich wochenlang an
einem Bild, das sehr farbig werden sollte - übrig blieb eine dünne
schwarze Linie auf grauem Grund und ein kleiner, blauer Keil. Die
Bilder wurden noch karger. Knapper wusste ich nicht mehr zu formulieren.
Das war 1954."
Was hier in kurzen Sätzen von Micus geschildert wurde, macht
deutlich, mit welcher Konsequenz und Zielstrebigkeit dieser seinen
Weg zu gehen bereit gewesen war. Durch das Prinzip der Bildteilung
emanzipierte sich Micus von seinem Lehrer Baumeister und brachte
das bildnerische Vokabular bis zur Grenze einer fast völligen Reduktion.
Gleichzeitig griff er auf die ihm von seinem ersten Lehrer, dem
Kollwitz-Schüler Reinhard Schmidhagen, Anfang 1945 vererbten Farben
zurück und schuf so 1952 sein erstes wirklich abstraktes Bild.
So entstanden ab Anfang der 1950er-Jahre die ersten Bilder, bei
denen sich durch die Andeutung einer Mittellinie die Zweiteilung auf
der Fläche vollzog. Damit war Micus selbst zu einem "Nullpunkt" gekommen,
sodass er sich ab Mitte der 1950er-Jahre erst einmal anderen
Feldern zuwandte: "Die nächsten Jahre geriet ich in einen Kreis
junger Architekten. Wir schmiedeten Pläne für Häuser, Städte, Wände.
Geredet wurde über Material und die Verbindung unterschiedlicher
Materialien. Wir stritten über Le Corbusier, Doecker, Gutbier,
Gutbrod, Gropius, Frank Lloyd Wright, Mies van der Rohe. Ich baute
Stühle, töpferte, entwickelte Holzbilder, die durch ihre freien Räume
die Umgebung mitwirken ließen. Jahre mit Versuchen, die Isolierung
der bildenden Kunst aufzulösen im Rahmen des großen Spektrums
der angewandten Künste."21
Micus experimentierte, er war auf der Suche nach einer eigenen
Form, eine Form, die sich zunehmend vom Inhalt unabhängig machte.
Erst Anfang der 1960er-Jahre griff Micus wieder auf die Leinwand
zurück.22 "Nach kurzer informeller Zeit kehrte die Kontrastkomposition
immer deutlicher wieder. Mir wurde klar, dass dieses formale
Gerüst die entscheidende Grundlage für meine weitere Arbeit sein
würde. In vielen Blättern fügte ich spontane Zeichen an die gleiche
große, leere Hälfte des Bildes: beide Hälften steigerten sich gegenseitig
durch den Kontrast zu einer mir nicht bekannten Intensität."23
Die durch die Bildteilung entstandenen Bildflächen wurden in den
folgenden Jahren zu Trägern einer ungegenständlichen, meist monochromen
Strukturenmalerei, die Micus bis zu seinem Tod als Gestaltungs-
und Ordnungsprinzip beibehielt. Kontinuierlich aber blieb
spürbar, dass Micus Maler war, auch wenn die Einflüsse der Tischlerei
seines Vaters immer wieder durchbrachen, indem er einerseits
mit unterschiedlichen Materialien experimentierte und andererseits
neue bildnerische Mittel und Bildkonzepte ausprobierte.
Zeigte sich die Zweiteilung der Bildkomposition bisher noch stets
auf der Grundlage eines einheitlichen Bildträgers, so begann Micus
ab Anfang der 1960er-Jahre mit der konsequenten Weiterentwicklung
seines Bildkonzeptes. Die bisher nur auf der Fläche vollzogene
Bildteilung erreichte nun den Bildträger selbst, was die physische
Teilung der Leinwand zur Folge hatte. Diese erweiterte die Referenzialität
des Kunstwerks qualitativ, weil dieses auf eine Vielzahl von
Formen, Strukturen, Ansprachen und Materialien zurückgreifen und
der Künstler einem bestimmten, bereits erprobten Prinzip folgen
konnte. Der Dualismus der Bildteilung, die Gegensätzlichkeit bildnerischer
Mittel und Materialien, die Micus zu einer hohen Komplexität
zu verflechten wusste, wurden erst durch das Kunstwerk selbst zur
Synthese gebracht.
Die notwendigen Interventionen des Künstlers, das bewusste "Dazwischengehen
", das "Eingreifen" wie Cézanne es ausdrückte24,
zerlegten den traditionellen Bildträger in zwei voneinander unabhängige
Leinwandhälften und damit in Polaritäten und Gegensätze,
die den kreativen Prozess nunmehr maßgeblich beeinflussten. Doch
eine Synthese konnte sich nur ergeben, wenn sich die zuvor ge-
schiedenen Hälften wieder vereinigten. So entstanden ab 1962 die
ersten sogenannten "Coudragen" (französisch "coudre": nähen),
durch eine Mittelnaht zusammengenähte, ehemals getrennte Leinwände.
Mit diesem Verfahren erweiterten sich Gestaltungsmöglichkeiten
und Formenrepertoire entscheidend. Denn nicht nur gegensätzliche
Leinwandhälften fanden zu einer Synthese, sondern auch
Oberflächen bekamen durch das Verfahren der "Coudrage" neue
Strukturen.
Micus widerstand der Versuchung, das Bild in seine Einzelteile zu
zerlegen und als Objekt im dreidimensionalen Raum zu inszenieren,
so wie es sein Vetter Michael Buthe gemacht hatte. Den Akt
der Trennung hatte er vollzogen, der nunmehr durch die Mittelnaht
sichtbar bleiben würde. 1962 hatte Micus die Autonomie und Unversehrtheit
des Staffeleibildes in Frage gestellt, hielt letztendlich
aber an ihm fest. Es ist als eines der entscheidenden Merkmale in
seinem Werk auszumachen, dass er trotz unterschiedlichster Techniken,
Materialien, Strukturen und Formen den Bild- und Malcharakter
des Staffeleibildes nicht aufgab. Konzeptionell sah Micus vor,
dass eine ruhige linke Bildhälfte den bewegten, aktiven rechten
Seiten gegenüberstehen sollte. Dieses dadurch erreichte Konzept
einer Synthese als "konfrontative Einheit" formaler Gegensätze, in
dem unterschiedliche Bildhälften zusammengenäht wurden, beschrieb
Micus 1965 folgendermaßen: "Diese Bildhalbierung führt
von der Dekomposition zur Kontrastkomposition: Leerfläche contra
bewegte, bemalte, mit Skripturelementen überschattete Fläche.
Position (Malerei oder Leerfläche) gegen Negation (Leerfläche oder
Malerei). Kein ›Blanchismus‹, obwohl Weiß auf den Leerflächen dominiert,
weil der Kontrast des bearbeiteten Positivs dem negativen
Teil des Bildes entgegensteht. Still und laut - tot und bewegt. Gegensätze
steigern sich. Kombinationen, die das Stille stiller machen
und das laute lauter, das Schwarze schwärzer - das Weiß weißer.
Selbst gegenüberstellen weißer Bildflächen bleibt Konfrontation.
Coudrage: Zusammenfügen von absoluten Flächen puristischer
Ordnung mit bewegten Linien, Schattierungen, Floskeln, Stenogrammen.
Coudrage = Synthese."25 So scheint auch hier die mythologische
Metaebene wieder auf. Micus bedient sich des "Fadens
der Ariadne", um durch das Zusammennähen der Bildhälften die
entstandenen Polaritäten wieder zu einer Einheit zusammenzuführen.
Tatsächlich wurden die Coudragen von seiner Frau Ingrid gefertigt,
die auch den Namen erfand, und es ist nicht ganz eindeutig,
ob die Idee zu dem Verfahren von Micus selbst oder von seiner
Frau stammte.26
Das oben beschriebene Prinzip der "Coudrage" veröffentlichte Micus
erstmalig in der 1965 erschienenen Programmschrift der Künstlergruppe
SYN , der er seit ihrer Gründung 1965 bis 1970, neben Klaus-
Jürgen Fischer, Erwin Bechtold, Bernd Berner und Rolf-Gunter
Dienst, angehörte.27 Durch seine Mitgliedschaft demonstrierte Micus
auch nach außen sein Bekenntnis zu einer abstrakten, ungegenständlichen
Kunstsprache. Die Absichten von SYN wurden in
einem 1965 von Klaus-Jürgen Fischer veröffentlichten Aufsatz "Zur
Idee einer komplexen Malerei und Plastik" offengelegt.28 Der Entwurf
zu einer "komplexen Malerei" war in seinem Kern ein klassisches
Anliegen. Die Künstler der Gruppe SYN wiesen auf die Notwendigkeit
von "Teilheiten" und "relativen Ganzheiten" hin. In Abgrenzung
zum Konstruktivismus vertrat "die komplexe Malerei dagegen einen
Synthetismus, welcher die Pole des Konstruktiven und Sensitiven
einschmelzt". Eine solche Komplexität ist bemüht, sich von den kontradiktorischen
Widersprüchen der unterschiedlichen Kunstrichtungen
wie von normativen Verhärtungen fernzuhalten und nähert sich
einem klassischen Gleichgewicht der Kräfte. Dabei scheint unmissverständlich
dasjenige auf, was Wilhelm Worringer in seiner 1907
veröffentlichten Dissertationsschrift Abstraktion und Einfühlung als
"Denksinnlichkeit" beschrieb.30
Für die Künstlergruppe SYN , die 1965 ihr zwölf Punkte umfassendes
Programm veröffentlicht hatte, war die "informelle Malerei" eine
wichtige Voraussetzung. Der theoretische Kopf der Gruppe, Klaus-
Jürgen Fischer, formulierte die Funktion des Kunstwerks als eine
"das Bildmaterial zugleich objektivierende und transzendierende
Gestaltung".31 Der Künstler "konzentriert sich auf das Sprachvermögen
des Bildes selbst und sucht einfache, aber umfassende visuelle
Formen … Indem ich abstrakt male, lege ich keinen Wert darauf, meine
wechselnden Umwelteindrücke in Bilder zu transponieren … Ich
achte beim Malen also nicht auf die Darstellung einer Realität außerhalb
des Bildes, sondern auf die Herstellung einer zweiten Realität,
die des Bildes selbst".32
Die Frage nach der Referenz von Bildern - also die Frage, worauf
sie verweisen, ob sie auf etwas "Reales" verweisen, wie sich
ihr Bezug zur Wirklichkeit darstellt, was sie also zeigen oder ob sie
auf eine Metaebene verweisen, die sich als zweite Wirklichkeit behauptet
- lässt sich durch das Werk von Micus nicht immer eindeutig
beantworten. Im Kontext der Entwicklung der Kunst der 1950er-,
1960er- und 1970er-Jahre durchlief das bildnerische Schaffen Micus'
unterschiedliche Stufen der Transformation, die ich folgendermaßen
bezeichnen möchte:

1948-1952/53
- "Entleerung" der Fläche
- Trennung von Gegenstand und Farbe
1952
- erstes abstraktes Bild
- Prinzip der Bildteilung auf der Fläche
- Form wird zum Inhalt
- Farbe wird monochrome Fläche
1954
- Maximale Reduktion bildnerischer Mittel
1955-1960
- Unterbrechung der Malerei
- Experimentieren mit Materialien
1962
- Physische Teilung des Bildträgers (Leinwand)
- "Synthese" durch die Erfindung der "Coudrage"
- Weiterentwicklung Konzept der "Kontrastkomposition"
Auf Ibiza konnte sich Micus "der Darstellung einer Realität außerhalb
des Bildes" allerdings immer weniger entziehen. Obwohl er das Prinzip
der "Kontrastkomposition" beibehielt, änderte sich erneut sein
Verhältnis zum Bild. Micus nahm eine neue Perspektive ein, die die
geteilte Bildfläche zunehmend in einen "Assoziationsraum" wechselnder
Eindrücke verwandelte, wie es vor allem seine Arbeiten aus
den späten 1980er- und 1990er-Jahren zeigten. Dabei ging es ihm
nicht um eine bloße Darstellung einer außerhalb des Bildes liegenden
Erscheinung, sondern um ihre Transformation zu einer neuen Realität
bildnerisch reiner Beziehungen, ganz im Sinne Paul Klees, der
dies folgendermaßen formulierte: "Als Maler abstrakt sein, heißt nicht
etwa Abstrahieren von natürlichen gegenständlichen Vergleichsmöglichkeiten,
sondern beruht, von diesen Vergleichsmöglichkeiten unabhängig,
auf dem Herauslösen bildnerisch reiner Beziehungen."33
Doch nichts war von Beständigkeit, der einmal gefundene Weg
wurde schnell wieder verlassen.
"Meine Bilder, meine Absichten sind wie alle Absichten mit Bildern
durch Worte nicht zu umschreiben. Beschreibe Linien, Nuancen von
Weiß … Tastend entstehen sie und kein Ergebnis ist wie der erste
Gedanke. Wer die erste Seite schreibt, weiß nicht die letzte. Wer
den ersten Schritt tut kennt nicht den letzten. Ein Strich bedingt den
nächsten und begibt sich in Abhängigkeit bis zum Ende, zum organischen
Gebilde, das keine Fragen mehr zulässt.
Ich habe die Fläche, den begrenzten Raum, darin die leere Hälfte:
den Halt, das Intakte, unberührt, bereit Gegenüber zu sein der Heiterkeit,
der Trauer, den Ängsten, dem, was ich nicht buchstabieren
kann. Ich fülle das abstrakte Feld, ohne Absicht, wie mich die Jahre
gefüllt haben. Unsicherheit kommt, wo die Absicht kommt. Da sein,
ohne es zu wissen, selbstverständlich wie Regen, Wasser, das fließt.
Den Widerstand spüren, Wellen, die brechen am Strand, Wind, der
einen Halm bewegt. Danach: das war ich? Und morgen? Frei sein ist,
das Erreichte zerstören. Das Erreichte festhalten, wird mich zerstören.
So reihen sich die Bilder."34
Stephan Nikolaus Barthelmess

1 Micus, Eduard: "Zeit der Purzelbäume", in: Eduard Micus, Ausst.-Kat. Galerie Vera
Munro, Hamburg 1977, o. S. - Micus, Ausst.-Kat. Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück
u. a. O., Köln 1986, S. 154. 2 Zur Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert vgl. Faulstich,
Werner (Hrsg.): Die Kultur der Fünfziger Jahre, München/Paderborn 2002; ders.: Die
Kultur der 60er Jahre, München / Paderborn 2003; ders.: Die Kultur der 70er Jahre,
München / Paderborn 2004. - Micus hat in eigenen Texten immer wieder auf einzelne
Künstler und Entwicklungen dieser Dekaden Bezug genommen und sich meist - ob Pop
Art, Concept Art, Minimal Art usw. - kritisch darüber geäußert. Vgl. Ausst.-Kat. Hamburg
1977 (wie Anm. 1). 3 documenta 5. Befragung der Realität - Bildwelten heute, Kassel,
30. 6.-8. 10. 1972. 4 Cladders, Johannes: "Die Realität von Kunst als Thema der Kunst",
in: documenta 5, Ausst.-Kat. Neue Galerie Obergeschoss, Schöne Aussicht, Kassel 1972,
Sektion 16, S. 16. 1-16. 5. 5 Vgl. ebd., Sektion 16, S. 16.171-16.172. 6 Ovidius, Naso
Publius [Ovid]: Metamorphosen, in dt. Hexameter übertr. und mit dem Text hrsg. von
Erich Rösch, München 1952, S. 285/286. 7 Eduard Micus, in: Micus 1925-2000. Zum
75. Geburtstag, hrsg. von Eduard Micus, Ausst.-Kat. Stiftung Museum Schloss Moyland
(24. 03.-09. 06. 2002), Bedburg-Hau 2000, S. 15. 8 Vgl. zur Jugend von Micus Buekenhout,
Monika: Bildeinheit - Bildteilung. Form und Konzeption im Werk von Eduard Micus,
unveröffentl. Magisterarb. Hamburg 1992, S. 4-8. - Zur Legendenbildung des Künstlers
vgl. Kris, Ernst und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch,
Neuausgabe, Frankfurt am Main 3. Aufl. 1995. 9 Andrea Alciati, Buchillustration zu
Ikarus bei seinem Sturz in das Meer, Holzstich, Emblematum liber. 1536, The Newberry
Library Chicago, Case W 1025.0165. - Pieter Brueghel d. Ä., Landschaft mit dem Sturz
des Ikarus, um 1555 / 58, Königliches Museum Brüssel. 10 Henri Matisse, Icare, Blatt
VIII aus Jazz, 1943. 11 Wahrscheinlich erfolgte dies durch die Vermittlung von Erwin
Bechtold und Rolf-Gunter Dienst. Bechtold lebte seit 1958 auf Ibiza und war auch Mitglied
in der Künstlergruppe Ibiza Grupo 59 um den seinerzeit auf Ibiza lebenden Architekten
Erwin Broner. - Vgl. Gespräch des Autors mit Rolf-Gunter Dienst am 8. 11. 2012 in Ber -
lin. 12 Eduard Micus, in: Ausst.-Kat. Bedburg-Hau 2002 (wie Anm. 7), S. 42. 13 Cézanne,
Paul und Joachim Gasquet: Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, hrsg. von
Walter Hess, Mittenwald 1980, S. 12/13. 14 Micus hat sich mehrmals dazu geäußert,
was die Übersiedlung nach Ibiza und der damit verbundene Rückzug aus der kunstund
kulturpolitischen Debatte für ihn bedeutete. - Vgl. Ausst.-Kat. Hamburg 1977 (wie
Anm. 1). 15 Beuys, Joseph, cit. Cladders, Johannes: "Die Realität von Kunst als Thema
der Kunst", in: documenta 5, Ausst.-Kat. Neue Galerie Obergeschoss, Schöne Aussicht,
Kassel 1972, Sektion 16, S. 16. 4-16. 5. 16 Eduard Micus, in: Ausst.-Kat. Hamburg 1977
(wie Anm. 1), o. S. - Ders. in: Ausst.-Kat. Bedburg-Hau 2002, S. 22. 17 Vgl. Hirner, René:
"Einführung in Willi Baumeisters Kunsttheorie", in: Baumeister, Willi: Das Unbekannte in
der Kunst, Köln 1988, S. 237-239. 18 Eduard Micus, in: Ausst.-Kat. Hamburg 1977 (wie
Anm. 1), o. S. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Wahrscheinlich reagierte er maßgeblich
auf Impulse von Klaus-Jürgen Fischer, vgl. Gespräch des Autors mit Rolf-Gunter Dienst
am 8. 11. 2012 in Berlin. 23 Ebd. 24 Siehe Anm. 11. 25 Micus, Eduard: "Coudrage",
in: SYN Internationale Beiträge zur neuen Kunst, Heft 1, Baden-Baden 1965, S. 74-
79. 26 Siehe Anm. 11. 27 Siehe Anm. 22. 28 Fischer, Klaus-Jürgen: "Zur Idee einer
komplexen Malerei und Plastik", in: SYN Internationale Beiträge zur neuen Kunst (wie
Anm. 25), S. 37-44. 29 Siehe Hespe, Rainer: "Aspekte des Klassischen in der gegenwärtigen
Kunst", in: SYN Internationale Beiträge zur neuen Kunst, Heft 3, Baden-Baden
1967, S. 39-42. 30 Vgl. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur
Stilpsychologie, hrsg. von Helga Grebing, mit einer Einf. von Claudia …hlschläger, München
2007. 31 Siehe Anm. 25. 32 Ebd. 33 Klee, Paul: Form- und Gestaltungslehre,
Bd. 1, Das Bildnerische Denken, Basel 4. Aufl. 1981, S. 72. 34 Siehe Anm. 1.